top of page

Vom Igel, der seine Stacheln verlor, dem Hochbetrieb in der Blutfabrik und dem Abschied vom ZVK

Rückblickend erscheint es einem immer, als ob die Zeit wie im Flug vergehen würde und man neigt manchmal auch dazu Erlebtes im Nachhinein auch zu romantisieren: „War ja gar nicht so schlimm.“ „Hat ja nur 4 Tage gedauert, dann war das auch vorbei.“ Aber währenddessen steht die Zeit still und man wünscht sich dass sie doch schneller vergehen mag.


Eine kleine Geschichte von einem Igel


10 Tage nach Abschluss meines Chemozyklus werde ich morgens beim Blick auf meinen Kopfpolster von unzähligen Haarstoppeln überrascht. Ich fahre mir durch die Haare und da sind sie: meine immerhin schon auf 7mm gewachsenen Igelstacheln. Ich überprüfe es mehrmals und bei jedem Mal gehen unzählige Haare mit. Es ist also soweit, der Haarverlust rückt an den Plan der heutigen Nebenwirkungen. Die geliebte Igelfrisur meines Mannes scheint sich zu verabschieden.

Nachdem ich mich ja auch bereits an meinen Anblick mit Glatze gewöhnt habe, empfinde ich den Haarausfall nicht wirklich als „Verlust“, sondern beinahe als störend. Immerhin ist mein Bett voller Stoppeln, im Essen finde ich sie und auch meine Kleidung ist voller kleiner Haare. Andererseits ist es beinahe eine Form der Beschäftigungstherapie, wenn ich mit meinem Fusslroller das Bett, meine Kleidung und den Polster bearbeite, nur um das ganze nach Abschluss wieder von vorne zu beginnen. Nachdem sich erste „Glatzenlücken“ auf meinem Kopf zeigen, spiele ich mit dem Gedanken erneut zum Rasierapparat zu greifen.


Die Blutfabrik

Vom Kopf wandert meine Aufmerksamkeit hinunter Richtung Kreuz- und Steißbein. Dort machen sich tiefsitzende pulsierend-ziehende Schmerzen breit. Ich winde mich wie ein Schlangenmensch hin und her, teste jegliche Position aus, aber nichts verändert sich. „Das ist ein gutes Zeichen, es sind Knochenschmerzen. Das bedeutet, dein Knochenmark beginnt wieder eigene Blutzellen zu produzieren und arbeitet im Moment auf Hochtouren.“ Wieder mal bin ich erstaunt von diesem Körper und vor allem den zeitlichen Aspekt, der vergeht, bis dieser neue Nebenwirkungen zeigt. Ich bedanke mich innerlich bei meinem Knochenmark, das es seine Arbeit wieder aufgenommen hat und motiviere es weiter, gesunde reife Blutzellen herzustellen und der Leukämie hier keine Chance zu lassen. Von der Aplasie scheint es nun langsam nach oben in Richtung Regeneration zu gehen und mein blutbildendes System beginnt sich zu erholen. „Wollen wir das mal nicht verschreien“, zwinkert mir der Arzt bei der Visite zu.


Lebt wohl Brownie, Blue und Red an meinem Hals!

Kopfhörer ins Ohr, Musik an und so marschiere ich den Gang in meinem neuen Stationsghetto entlang. Mein Block sozusagen, mit einem Grüßen hier und da, einem Lächeln und Smalltalk mit den Reinigungsdamen und einem kurzen Besuch bei meiner ehemaligen Zimmernachbarin. Ich schreite selbstbewusst zu meinem Zimmer zurück, als mich eine junge Ärztin am Stützpunkt aufhält und nahezu beiläufig erwähnt: „Aaa, Frau Poschmaier, wir werden am Nachmittag den ZVK entfernen.“ Sie schaut weiter in ihre Akten und scheint das Gespräch damit zu beenden. Ich bleibe stehen, denke kurz darüber nach und frage mich, ob ich bei der Visite diese Information versäumt habe, aber kann mich nicht daran erinnern, dass irgendjemand davon gesprochen hat, das man doch sehr geliebter ZVK am Hals einen Abgang machen muss. „Entschuldigung, aber warum?“ Etwas irritiert, das ich noch dastehe und noch dazu etwas wissen will, kommt allerdings wie aus der Pistole geschossen die Antwort: „Ihre Entzündungswerte sind gestiegen und wir wollen nicht riskieren, dass sich ein Keim am Zugang angesiedelt hat und zu einer Infektion führt.“ Das war’s, mehr Informationen gibt es nicht, ich marschiere also ins Zimmer, lege mich hin, denke über diese Form der Kommunikation oder auch fehlenden Kommunikation nach und warte bis denn meine drei schenkeligen Freunde am Hals in Blau, Braun und Rot von mir entfernt werden.


Zwei Pflegerinnen rücken an, das Bett wird flachgestellt, ich blicke in die Augen der beiden netten Damen und schon werden die Nähte gezwickt und auf das Kommando: „Einatmen-Ausatmen-Luft anhalten.“ SCHWUPPS, und raus ist der 20cm lange Schlauch der mir mehr oder weniger wortwörtlich ja ans Herz gewachsen ist (ein zentraler Katheter wird in eine zentrale Vene bis Nähe Herz eingeführt).

30 Minuten liege ich flach mit einem Sandsack auf dem Hals und fühle mich einerseits seit Wochen frei, ohne Verband um den Hals, andererseits heißt es nun die spärlich vorhandenen guten Venen in meinen Armen suchen und anstechen um Blut zu bekommen und Infusionen anhängen zu können.


Der Start ins Wochenende erfolgt also mit kleinen Abschieden von Haaren und Katheterschlauch, aber auch einer neuen Regenerationsära mit neuen eigenen Blutzellen. Ich blicke auf den Berggipfel vor mir: die Genesung bzw. die Stammzellentransplantation, die mir eine vollständige Heilung ermöglichen kann. Es ist noch ein weiter Weg, aber ich fühle mich wieder voll neuer Energie, die mich wieder ein Stück weitertragen kann.

1 Kommentar

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

1 Comment


Guest
Apr 15, 2023

Ich bewundere dich! Wahnsinn wie stark du bist . Ich lese deine Beiträge voll gern und wünsche dir alles erdenklich Gute und eine baldige Genesung! 🌸

Like
bottom of page