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Tag -6: Ran an die Leine!

6:15 Uhr Tagwache um Abstriche aus Nase, Mund und ja dem Intimbereich zu machen. Danach versuche ich wieder etwas einzudösen, um die Zeit totzuschlagen, nachdem ich nicht weiß was wann am heutigen Plan steht. Mittlerweile lasse ich das Planen lieber, hat sich irgendwie nicht bezahlbar gemacht ;)

Nach dem Frühstück und der Dusche traue ich mich aus meiner Isolationszelle heraus und erkunde die Station. Viel gibt es hier nur leider nicht zu sehen, außer vieler verschlossener Türen. Ich studiere die Nachnamen an den Türen, stelle eine persönliche Statistik über das Männer: Frauen Verhältnis auf (eindeutig mehr männliche Patienten vorhanden), schätze das Alter meiner Kolleg*innen und male mir aus welcher Mensch sich hinter dieser Tür wohl verbergen mag.


Ohne jegliches Zeitgefühl stapfe ich in Runden von einer Ecke der Station in die andere, bis mir auf diesem verlassenen Gang plötzlich eine andere Insassin in Patient*innenuniform entgegenkommt, sichtbar unter der Maske lächelnd. "Du musst also Jasmin sein. Es wurde für uns ein Spazierdate arrangiert, mein Name ist Christa", sagt sie freundlich zu mir. Meine charmante Servicedame ist anscheinend die ideale Verkupplerin zwischen Patient*innen. Wir spazieren also gemeinsam vor uns hin, führen die üblichen Gespräche von Krebspatient*innen über Vorurteile, Stereotypen, Aussagen der Ärzteschaft und unsere Pläne für die Zukunft, die uns letztlich ja hierhergeführt haben. Denn wir sind uns einig, wer hier ist, der möchte einen Schlussstrich mit dem Krebs ziehen und seine Jahre nicht fortwährend mit wiederkehrenden Chemozyklen auf einer onkologischen Station verbringen.


"Da sind Sie ja, jetzt geht's aber mal an die Arbeit, wir haben ja noch die Chemotherapie heute", ruft mir meine zuständige Pflegerin mit in die Hüften gestützten Hände am Gang zu. Husch husch ins Körbchen also und mit einem "Bis morgen, Schatzi", meiner entzückenden Spazierbegleitung, sehe ich ihr nach, wie sich die Schleusentür schließt.

Und da kommt er nun zum Einsatz, der berüchtigte 7 Meter lange Schlauch, der an meinen ZVK angeschlossen wird und mich nun über 24 Stunden mit Flüssigkeit, Chemotherapie und sonstigem Zeug versorgen soll (an dieser Stelle sei angemerkt, dass ich für Namensvorschläge offen bin). Damit ist es vorerst aus mit der Freiheit, denn mein Bewegungsradius beschränkt sich auf die Ecken in meinem Zimmer. Während mein Infusionsständer bei meinem ersten Chemozyklus sehr praktisch für jegliche Fortbewegung war, stellt sich die Zusammenarbeit mit meiner Halsfessel äußerst schwierig dar. "Der Schlauch sollte auch nicht auf dem Boden liegen," lauten die warnenden Worte meiner Pflegerin. Wir spielen also nun "der Boden ist Lava", das macht das Ganze ja noch interessanter. Zenzi und Jasmin verliefen sich also in der Rooftopsuite und legten statt einer Spur von Brotkrümeln einen Weg mit einem durchsichtigen Schlauch um zurück zum Bett zu finden. Das hat eindeutig Potenzial fürs Märchenbuch.


















Ich schließe meinen ersten Tag der Chemotherapie wieder mit Bloggen ab, mit den letzten Energien bevor ich seltsamerweise bereits gegen 19 Uhr von Müdigkeit eingeholt werde. Wieder beginnt nun diese spannende Zeit des Entdeckens, in der Tag für Tag neue Nebenwirkungen auftreten können, aber nicht müssen und man wieder etwas über den eigenen Kampfgeist, die körperliche Kraft und die Überlebenstaktiken lernt. Etwas Positives hatten meine Umwege zu diesem Neustart auf jeden Fall: Meine Gelassenheit und Ruhe im Umgang mit unveränderlichen Umständen. Ich mag noch kein Profi im Annehmen sein und habe dann doch lieber die Kontrolle und Selbstbestimmung über mein Leben, aber dennoch lasse ich mich Tag für Tag auf alles ein, was mir angeboten wird, in dem Wissen, dass ich es einerseits nicht ändern kann, andererseits keine Alternative zur Heilung besteht als dieser Weg.

Aber soviel sei gesagt, es sind die kleinen Freuden im Leben, genau wie meine darauf morgen von meiner Halsfessel befreit zu werden, nur um zu duschen und vielleicht auch ein paar Runden in der kleinen Freiheit vor der eigenen Zimmertür drehen zu dürfen.

Ihr habt geglaubt auf der Normalstation herrscht völlige Fremdbestimmung, dann habt ihr noch nicht die Premiumsuite im obersten Stock des AKH Wiens, den Hochsicherheitstrakt mit den Isolationszimmern, kennengelernt.

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