Obenrum frei
Unsere Haarpracht
Wir tragen ungefähr 5 Millionen Haare über den gesamten Körper verteilt und davon befinden sich gerade einmal 150.000 auf unserem Kopf . Das heißt also den weitaus größeren Anteil rasieren wir vollkommen unbedacht einfach weg, weil wir sie als unattraktiv ansehen.
Haare sind jedoch nicht nur für unser Aussehen wichtig, sondern vor allem kommt ihnen auch eine wichtige Schutzfunktion zugute. Sie schützen unsere Kopfhaut vor UV-Strahlen und unser Gehirn vor zuviel Wärme (Leitner, 2015).
Aber vielmehr finde ich, sind sie auch das "dicke Fell", das uns schützt, wenn uns jemand sprichwörtlich etwas "an den Kopf wirft". Und ich hatte ein sehr dichtes, kräftiges und schönes Fell. Durch viele Lebensphasen, einschließlich farblichen Experimentierphasen der Pubertät hinweg, haben meine Haare einiges miterlebt und wohl auch mitmachen müssen. Sie sollten aber nun der erste Teil sein, den ich von meinem alten Leben loslasse, um den ersten Schritt in Richtung Gesundheit machen zu können.
Ich habe mich dazu entschieden, meine Haare vor meiner Krankenhausaufnahme abzurasieren, da ich Angst hatte - alleine im Krankenhaus nur mit einer Pflegeperson, die vielleicht gerade an dem Tag der Rasur, schlechte Laune hat oder unter Zeitdruck steht (wirklich nichts gegen meine Kolleg*innen, ich bewundere die Pflege) -meinen Emotionen hilflos ausgesetzt zu sein und niemanden an meiner Seite zu haben, der mich unterstützen kann.
Der Tag meines Umstylings rückte also näher und mich beschäftigten Gedanken wie: "Ist es wirklich eine gute Idee schon im Vorfeld die Haare abzurasieren, wenn vielleicht wieder etwas zwischen meine Behandlung und mich kommt und ich dann mit Glatze herumlaufen muss?"
"Stigmatisierung" "Stempel: krank"
Gerade als Frau definiert man sich oft über die Haare und ich kann mich noch gut erinnern, wie eine Bekannte, die an Brustkrebs litt, für mich immer fröhlich und gesund aussah, bis zu dem Punkt, als sie plötzlich eine Haube über ihrer Glatze trug. In meiner Wahrnehmung war sie plötzlich "krank". Sollte es mir also genauso ergehen, dass es auf einmal für die Außenwelt sichtbar werden würde, was in meinem Inneren bereits seit Jahren Sache ist?
Stigmatisierung, Vorurteile, Geflüster ...
Diese Gedanken erscheinen mir aber gleichzeitig irgendwie auch befremdlich, denn ist es nicht schlimm sich so sehr über ein äußeres Merkmal zu definieren? Selbstliebe ist wieder einmal mehr gefragt denn je und wird langsam immer mehr zur Lebensnotwendigkeit um diese gesamten Heilungsprozess zu schaffen.
Das Umstyling
Und so kam es also, dass ich an diesem Dienstagabend vor einem Spiegel sitze, umgeben von meinen Begleiter*innen, die mich psychisch durch diesen mutigen Schritt begleiten sollten. Mein Friseur strahlt Ruhe, Geborgenheit, Verständnis aber noch vielmehr Festlichkeit aus, was diese ganze Situation eher zu einem zeremoniellen Akt macht, als zu einer Tragödie. Es folgt eine Frage, mit der ich an diesem Punkt nicht gerechnet habe:" Also Jasmin, was machen wir heute? Alles weg oder eine lässige Kurzhaarfrisur?" Ich erstarre und werde still, ich habe nicht damit gerechnet, dass ich eine Wahl habe und mich vielleicht doch noch aus der Angelegenheit rauswinden kann. Alle gemeinsam wägen wir nochmal die Alternativen ab: Jürgen, der mit Leidenschaft und voller Liebe in einer Atmosphäre voller Festlichkeit und Heiterkeit das Haare rasieren zu einer Zeremonie macht, umgeben von Menschen, die mir die Hand halten, mich lieben und mir gut zusprechen. Oder abwarten bis die Chemotherapie mir ein Haar nach dem anderen runterreißt und eine Pflegekraft "nebenbei" zum Rasierer greift, weil es zu unhygienisch wird.
FAZIT: Obenrum wirds frei, so oder so, einzig die Atmosphäre kann ich wählen und da scheint mir doch der schicke Friseursalon, meine Liebsten und das Angebot eines Gläschens Prosecco gegen die Nervosität, deutlich attraktiver als ein farbloses, steriles Krankenhauszimmer.
"Her mit dem Prosecco!" Entscheidung getroffen, ein Schluck Alkohol verleiht Mut und schon verschwindet der Spiegel vor mir und wird durch einen riesigen Smiley ersetzt. Meine visuelle Kontrolle ist also ausgeschalten, meine Hände unter dem Umhang zu Fäusten geballt. Aber meine Ohren vernehmen dieses befremdliche Geräusch, das normalerweise nichts in der Nähe meines Kopfes zu suchen hat. "Du bist dran, lieber Ehemann", bemerkt Jürgen und schon ist es mein Lieblingsmensch, der schließlich dafür sorgt, dass meine Mähne zu Boden fällt. Plötzlich überkommt mich der Anflug von Panik, das Falsche zu tun, ich möchte die Hand heben, eingreifen, STOPP schreien. Doch dann wird mir bewusst, dass wir mittendrin im Geschehen sind und es nichts mehr zu retten gibt. Mein innerliches kurzes Aufbegehren bleibt also nur ein kurzes Grimassieren auf meinem Gesicht und schon sind wir fertig.
Noch habe ich weder eine Ahnung wie mein Kopf aussieht, noch wie sich das anfühlt.
Wer schon öfter Germany's next Topmodel gesehen hat weiß was als Nächstes kommt. Der Moment der Wahrheit, der das neue Aussehen nach dem Umstyling offenbart. Zuvor setzt mir Jürgen meine neue Perücke auf und als ich schließlich das erste Mal wieder in den Spiegel blicke, ist es als ob ich frisch gefärbte und geföhnte Haare vom Friseur bekommen habe. Dieses Gefühl kennen wir alle: noch etwas fremd greifen wir durch die Haare, wissen noch nicht ganz ob wir zufrieden sind und verlassen den Salon wieder. Aber genau jetzt kam der schwierigste Teil: Wir üben das Aufsetzen der Perücke. Zunächst dreht mich mein Friseur weg vom Spiegel und ich bin rasch im Lernen des richtigen Umgangs mit meiner neuen äußeren Hülle. Und dann .... blicke ich zum ersten Mal in den Spiegel und sehe MICH! Unverhüllt durch Haare, die ins Gesicht fallen, mit Narben von früheren Kindheitstagen am Kopf und einer gar nicht mal so schlechten Kopfform wohlgemerkt. Ich taste mich mit meinen Fingern meinen Kopf entlang, es prickelt auf den Fingerspitzen und ist ungewohnt, aber bei weitem nicht so schockierend wie ich es erwartet habe.
Wir leeren den Prosecco, bestärken uns gegenseitig für unseren Mut und Einsatz heute hierhergekommen zu sein und diesen ersten mutigen Schritt zu machen und fahren nach Hause.
Ich möchte an dieser Stelle auch nochmals meinem Friseur Jürgen und auch seiner Frau Karin danken, die mit ihrer offenen, herzlichen Art, Menschen wie mir gerade in solchen Situationen Kraft verleihen und ein Fest aus so einer unangenehmen Sache machen. Kleine Schleichwerbung, aber vor allem auch Herzensempfehlung für ihren Friseursalon: https://le-figaro.at/team/team-petzenkirchen/
Ich lege mich zufrieden und voller Liebe mit einem Menschen, der mich mit denselben Augen ansieht wie sonst auch und mir soviel Geborgenheit schenkt, ins Bett und denke: "Was soll denn jetzt noch schiefgehen?" ...
Quellen:
Leitner, M. (2015). 5 Fakten rund um unsere Körperbehaarung. Abgerufen am 23.03.2023 von https://www.gesund.at/beauty/koerperbehaarung-fakten/#:~:text=Nicht%20weniger%20als%20f%C3%BCnf%20Millionen,variiert%20%C3%BCbrigens%20je%20nach%20Haarfarbe.
Friseursalon mit Perückenstudio: Petzenkirchen - Le Figaro (le-figaro.at)
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Es war sehr berührend mit dir diesen Schritt auf deinem Weg gesetzt zu haben. Es ist viele Jahre her, da bin ich zum ersten Mal mit dir Haareschneiden gewesen, eines hat sich seither nicht verändert. Du bist mein hübsches und tapferes Mädchen 😍
D A N K E .
🤗Du bist ein Wahnsinn… 🤗
Dankeschön für deine Offenheit damit machst du vielen Mut….
❤️❤️❤️❤️❤️❤️❤️❤️❤️
man sollte viel öfter einen MUTAUSBRUCH haben
🤩🤩🤩🤩🤩🤩🤩🤩
( habe mir deswegen gleich wieder selbst meine Haare geschnitten- so hab ich es in der Hand 😉)
lg Tanja
Liebe Jassy, so ein mutiger und selbst-bestimmter Schritt von dir. Du bist von innen und außen wunderschön, egal wie viele Haare auf deinem Kopf sind. von Herzen, Anja
Du schaust toll aus! Und vergiss nicht… Haare wachsen nach! ☺️
Wow. Einfach nur Wahnsinn, Jessy. Mehr Worte finde ich gerade nicht und mehr braucht es auch gar nicht, glaube ich 🙏