Man nehme 3 weitere Buchstaben zum Chaos: AML
"Es kann 5-10 Jahre dauern bis MDS in eine akute Leukämie übergeht, nutzen Sie Ihre Zeit um Ihre Ziele umzusetzen."
"Sie sind noch so jung, genießen Sie die wertvollen Lebensjahre, die Sie noch haben können."
"Aber schwanger sollten Sie jetzt auf gar keinen Fall werden, wer weiß ob Sie dann in eine akute Leukämie entgleisen."
"Es gilt den richtigen Zeitpunkt zu finden, um nicht zu schwach für eine Stammzelltransplantation zu sein, aber auch kein unnötiges Risiko einzugehen."
Eigentlich wollte ich den Welttag für AML am 21. April für einen Beitrag wie diesen nutzen, aber mein Heimaturlaub stand ganz im Zeichen von Zweisamkeit, Freiheit in der Natur genießen und ganz viel gutem Essen und Trinken. Somit keine Zeit für Gedankenkarusselle in meinem Kopf. Wie eine Zeitschaltuhr haben sich meine Gedanken allerdings genau heute, einen Tag vor meiner Wiederaufnahme am AKH morgen, selbständig eingeschalten und tollen in meinem Oberstübchen herum.
Für viele MDS Patient*innen ist das, was mir passiert ist, schlichtweg das Worst Case Szenario. Eine Knochenmarkserkrankung im Hintergrund, die sich in Schach halten lässt und sich bei vielen auch in Jahren niemals zu einer Leukämie entwickelt, bricht plötzlich wie ein Vulkan aus und präsentiert sich in einem neuen Gewand: AML (akute myeloische Leukämie). Die Hard Facts erspare ich euch an dieser Stelle, denn ihr findet sie auf der Website unter Fachbegriffe genauestens angeführt. In meinem bewährten Funktioniermodus und im Angesicht der Gefahr im Krankenhaus, habe ich mitgekämpft und teilweise noch nicht realisiert, was es bedeutet unter der Diagnoseliste plötzlich sekundäre AML stehen zu haben. Nun sitze ich aber in Sicherheit, Ruhe und vermeintlichem Frieden in meinem Zuhause und mir wird klar, dass wieder einmal kein Stein auf dem anderen geblieben ist. Im Gegenteil, ein heftiges Erdbeben hat alles durchgerüttelt und zerstört. Ich habe in den vergangenen Tagen immer wieder an die oben beschriebenen Sätze denken müssen, die mir noch vor einem Jahr mit viel Ruhe und Sicherheit entgegengebracht wurden.
Wie konnte ich so plötzlich von einer MDS- zur AML-Patientin werden?
Aus 5-10 Jahren Wahrscheinlichkeitsrechnung wurden in der Realität letztlich 2 Monate, die es gerade einmal gedauert hat, bis meine ursprüngliche Erkrankung in eine Leukämie übergegangen ist. Leukämie spielt nach anderen Regeln als MDS und dieser mutierte, neue Beifahrer schürt neue Ängste in mir. Verzeiht mir meinen Wissensdurst, aber natürlich musste ich eine umfassende Literaturrecherche über meinen neuen Beifahrer durchführen.
Mir fliegen Sätze wie mehrere aufeinanderfolgende Chemotherapiezyklen mit Pausen dazwischen entgegen. Wörter wie Remission und Rezidiv und auch Prognosen treffen mich wie ein Gewitter und Blitze.
Danach aber auch wieder Hoffnung, dass eine früher als eindeutig tödliche Erkrankung deklarierte Leukämie aufgrund fortschrittlichster Medizin und Forschung nicht nur in Schach gehalten werden, sondern vor allem bei jungen, fitten Patient*innen, sogar geheilt werden kann.
Dennoch schaffe ich es nicht, die momentane Lage einfach als gegeben hinzunehmen. Ein Teil in mir drinnen kann nicht aufhören sich selbst immer wieder die gleichen Fragen zu stellen:
Wie wäre all das gelaufen, wenn ich meinen Erstantritt für die Stammzelltransplantation wahrnehmen hätte können?
Wäre ich der Leukämie nochmal entwischt, wenn die Ärzt*innen bereits Ende letzten Jahres meinem Wunsch nach der Stammzellentransplantation stattgegeben hätten?
Was wäre passiert, wenn ich auf die Ärzt*innen gehört hätte und weiter gewartet hätte bis es plötzlich zu spät, zu weit fortgeschritten gewesen wäre und keine Chance mehr auf vollständige Heilung bestünde?
Würde ich nun schon auf meinem Balkon sitzen und mich von allen Strapazen erholen, anstatt so wie jetzt noch nicht einmal zur Startlinie vorgerückt zu sein?
...Hätte, Hätte, Fahrradkette richtig?!
Ich muss mich mit einer neuen Realität, einem neuen Teil meiner Krankheit auseinandersetzen.
Jasmin, 29, leukämiekrank!
Das Seltsame ist, dass sich dieser Beifahrer noch leiser und unbemerkter als sein Vorgänger in mein Leben geschlichen hat. Kein einziger blauer Fleck war zu sehen, kein körperlich spürbarer Unterschied, als in meinem Inneren der Vulkan explodiert ist und das Doppelte an Blasten in meinem Knochenmark freigesetzt hat. Eine neue Ära wurde eingeleitet, das Chaos perfektioniert und mein solider Untergrund zum Beben gebracht. Aber wir haben nicht tatenlos zugesehen. Der erste Kampf wurde ausgetragen und wir werden in den nächsten Tagen erfahren, ob wir die Leukämie in die Flucht schlagen konnten.
Einatmen-Ausatmen, ein Schritt nach dem anderen. Ich blicke mich in meiner Wohnung um, sehe den gepackten Koffer und schließe kurz die Augen bei der Tatsache, dass ich morgen um diese Zeit bereits wieder in meinem persönlichen Gefängnis sitzen muss. Gefangen in einer fremdbestimmten Routine, umgeben von Menschen, die irgendwie Leidensgenoss*innen, aber dennoch auch fremd und in ihren Krankheitsprozessen manches Mal auch angsteinflößend für mich sind. Verpatzte Venenzugänge, ZVK, Antibiotika, Chemotherapeutika, meine geliebte Beckenkammbiopsie, all das wartet wieder auf mich und ich seufze bei dem Gedanken daran. Dennoch blicke ich zuversichtlich auf die nächste Runde, denn ich weiß, dass ich nur dort die Chance auf Heilung und vor allem eine Zukunft voller Lebensfreude haben kann. Mein nächstes Mal zuhause ist dann hoffentlich nicht mehr zeitlich begrenzt.
Aktuelle Beiträge
Alle ansehenStell' dir vor, du wirst mit einer Zeitmaschine plötzlich 1 Jahr in die Zukunft gebeamt. Du kennst die Menschen um dich herum und den...
Liebe Jasmin, ich wünsche Dir von ganzem Herzen weiterhin viel Kraft und vor allem dass sich Deine unglaubliche Pechsträhne endlich in eine ebenso hartnäckige Glückssträhne verwandelt und die Behandlung sehr gut anschlägt, damit Du bald wieder das Leben in vollen Zügen genießen kannst! LG Bettina Haslinger