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Das neue Leben: Von der Dysplasie in die Aplasie

Wie es sich so lebt 3 Tage alt zu sein?

Bis jetzt habe ich diese Reise durch mein Leben immer als dysplastisch wahrgenommen. Aus der Reihe tanzend, im Zick Zack, auf Umwegen und mit ein paar dramatischen Wendungen für den notwendigen Spannungsaufbau. Ein MDS ist zunächst bei mir eingestiegen, hat mir kurzerhand nochmal die akute Leukämie mit ins Auto gesetzt, die ich mit Kampfgeschrei jedoch auch wieder auf den Rücksitz katapultieren konnte. Ihr erinnert euch bestimmt noch an das schöne Wörtchen "dysplastisch", welches in der Medizin folgendes beschreiben soll:

Dysplasie = Zellen, Organe oder Gewebe weichen in ihrer Form von der Norm ab bzw. sind fehlgebildet

Die Auf und Abs dieser dysplastischen Reise haben allerdings ihren Höhepunkt mit der Stammzellentransplantation am Tag 0 genommen, denn nun lichtet sich der Blick auf einen neuen Reiseabschnitt, genauer gesagt geht es vom Höhepunkt erstmal runter ins Tal. Denn nach der sogenannten Konditionierungstherapie, welche den Körper vor der Stammzelltransplantation komplett runtergefahren hat, geschieht in meinem Körper nun NICHTS. Richtig gehört ein absolutes Null-Niveau stellt sich ein, in welchem die hauseigenen noch vorhandenen Zellen immer weniger werden (was gewollt ist) und die neuen Stammzellen noch nicht ihre Arbeit aufgenommen haben. Diese Talfahrt wird in der Medizin Aplasiephase genannt:

Aplasie = stark beeinträchtigte Bildung oder vollständiges Fehlen von Zellen, Organen und Geweben

Himmelhochjauchzend habe ich meine neuen Zellen in meinem Körper willkommen geheißen, nur um einen Tag später bereits die Talfahrt zu spüren zu bekommen. Es beginnt mit einem etwas schwummrigen Gefühl und geht in höllisch starke pochende Kopfschmerzen über. Meine Augen sitzen gefühlt ganz hinten in ihren Höhlen, jeder Reiz ist ihnen zuviel, ich versuche den Tag irgendwie zu "verschlafen", aber das will nicht klappen. Wir probieren mehrere Schmerzmittel und testen bereits auf im Blut vorhandene Keime aus. In dieser Phase sind Patient*innen, die wenig bis gar keine eigenen Blutzellen und dabei vor allem keine Abwehrzellen mehr haben, besonders anfällig für Infektionen, Keime, Blutungen etc. Mir wird versichert, dass alles was in dieser Zeit kommt normal ist, dazugehört und auch wieder vorbeigehen wird. Das Pulsieren in meinem Kopf will nicht aufhören und gipfelt schließlich in Erbrechen über. Nun fahren wir also auch noch ins CT um alles abzuklären und auch keine inneren Blutungen zu übersehen. Ich habe das Gefühl dieser Tag ist wie Kaugummi und zieht sich unendlich in die Länge. Ich hoffe nur, dass nicht alle weiteren Tage wie dieser sein müssen. Es gibt Entwarnung vom CT, alles ist unauffällig und die Erklärung folgt sogleich: eine Reaktion auf das Immunsuppressivum "sandimmun", das ich bekomme, worauf häufig Patient*innen mit starken Kopfschmerzen reagieren. Der erste Tag meines neues Lebens war also geschafft und die Aussicht auf die nächste Zeit eher in kleinen Etappen von Tag zu Tag abzusehen.


Im wahrsten Sinne des Wortes bin ich also von einer wilden Zick-Zack Achterbahnfahrt meines MDS auf einen absoluten 0-Punkt zugerast. Die Aplasiephase ist, als ob wir den Körper auf einer kontinuierlichen 0-Linie der Blutwerte sehen. Diese Vorstellung ist in meinem Kopf absolut beängstigend, so ganz ohne Verteidigungslinie gegen alles was nun von außen aber auch von innen in meinem Körper herankommt, kämpfen zu müssen. In den Augen von Pflege und Ärzt*innen sehe ich allerdings Gewissheit, Erfahrung und Vertrauen, dass all das seinen gewohnten üblichen Verlauf nimmt und auch wieder bergauf gehen wird, sobald meine neuen Zellen zu arbeiten beginnen. Alles was der Körper nun braucht im Kampf muss ihm zugeführt werden und für jede Nebenwirkung gibt es auch ein Helferlein. Es gibt nun viele kleine Hürden auf dem Weg in Form von Entzündungen, Nebenwirkungen oder Reaktionen. Ein kleiner Vorgeschmack ohne dabei zu viel und zu genau zu beschreiben, was mein Körper gerade macht, sind diverse Entzündungsgeschehen. Diese treten vor allem in jenen Zellen auf, die sich sehr schnell teilen wie Haut- oder Haarzellen. Vor allem in den Schleimhäuten des Mundes kommt es somit als Reaktion auf die Chemotherapie zu Entzündungen, die als Mukositis bezeichnet werden. Bestimmt haben viele von euch schon einmal Angina gehabt, so fühlt sich das ungefähr im Mund- und Rachenraum an. Solcherlei Entzündungen können im ganzen Körper nun florieren und müssen ehestmöglich antibiotisch bzw. mit ganz bestimmten Pflegemaßnahmen, welche man als Patient*in regelmäßig ausführen sollte, abgefangen werden.


Ich fahre noch immer in einem Auto mit ungebetenen Begleitern, aber auch wenn es derzeit noch nicht so aussieht, ist da bereits eine Armee an Stammzellen unterwegs, die bereit ist zum richtigen Zeitpunkt zuzuschlagen und meine ungebetenen Mitfahrer*innen rauszuwerfen. Ich sehe die Aplasie als jene Zeit an, in der ich meinem Körper Zeit geben muss, auf ihn und seine Signale hören und für ihn einstehen muss. Ich untergliedere dennoch diese Etappe für mich in einen überschaubaren Zeitraum. Nach einer Woche wird es mir wieder besser gehen und dann werden die Tage kommen, an denen neue Zellen auf der Bildfläche auftauchen, gesunde reife Zellen für die Zukunft.

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