Kinder aus dem Reagenzglas
„Haben Sie Kinder?“
Mit dieser Frage hatte ich an diesem Punkt meines Lebens und vor allem mit meiner neuen Erkrankung definitiv nicht gerechnet. Mir wurde offenbart, dass MDS sich scheinbar auch in diesen Bereich meines Lebens einmischen würde. Mir wurde davon abgeraten, ein Kind zu bekommen, bevor ich behandelt wurde. Die Gefahr eines Übergangs in eine akute Leukämie wäre zu groß und dann war da noch die Chemotherapie, die nicht nur die Blutzellen angreift, sondern jegliches Gewebe in meinem Körper und somit auch die Keimzellen. Einige Frauen bleiben dadurch nach einer Chemotherapie dauerhaft unfruchtbar. Ich sollte so rasch wie möglich versuchen meine Eizellen einfrieren zu lassen bevor es mit der Behandlung losging.
Tiny Feet - Die Kinderwunschambulanz
Die Kinderwunschambulanz „Tiny Feet“ befindet sich im selben Stock und gegenüber der Onkologie – welch Ironie!
An einem Tag erfuhr ich also wieviele 1000 Thrombos ich wieder mal verloren hatte und am nächsten lachten mich zahnlose Wesen von der Bilderwand gegenüber an.
Der Arzt strahlte meinen Mann und mich an und fragte wie er uns bei unserem Kinderwunsch unterstützen kann. Wir schauten einander an und ich schob schweigend die Mappe mit den onkologischen Befunden zu ihm hinüber. Die Augen wurden groß, ein Schwall von Mitleid überflutete sein Gesicht und er wurde nachdenklich. In Anbetracht unserer fehlenden Zeitressourcen tüftelte der Arzt an einem Behandlungsprotokoll, das so viele Eizellen wie möglich gewinnen sollte. Sein Vorschlag klang sportlich und nannte sich das "Shanghai-Protokoll", nur statt Jackie Chan, sollte ich zu einer wandelnden Hormonbombe gemacht werden. Es sei unsere beste Chance diese Eizellen im Anschluss auch gleich mit den Spermien meines Mannes zu befruchten. Embryonen können 10 Jahre lang konserviert werden und bieten höhere Chancen schwanger zu werden. Die romantische Frage "Schatz, lass uns ein Baby machen" blieb uns also erspart. Nicht nur psychisch, sondern auch um mehrere hunderte Euro leichter, verließen wir die Ambulanz mit einem Drogenlabor aus Spritzen, Hormonen und Medikamenten im Gepäck.
Da Babies normalerweise ja auch 50:50 gezeugt werden, wechselten wir einander beim Verabreichen der Hormonspritzen ab. Mit Hormonen und Thrombosespritzen immer im Gepäck versuchte ich so gut es ging einen normalen Alltag aufrechtzuerhalten und allen Terminen und Plänen nachzugehen. Nicht nur einmal saß ich daher mit Desinfektionsmittel, Hormonen und Spritzen auf einem öffentlichen WC und verabreichte mir den nächsten Hormonschub.
Kaum jemand kennt wohl den genauen Tag der Zeugung seines Nachwuchses. Wir allerdings schon.
18.10.2021: Wir setzten unseren Nachwuchs oder eher Zellklumpen in die Welt.
Wir wurden also im Laufe dieser Reise durch mein dysplastisches Leben erneut Zeug*innen medizinischen Fortschritts: künstlich Leben zu züchten. Bei einer Eizellpunktion wurden mir unter leichter Narkose 10 Eizellen entnommen, welche im Anschluss mit dem Samen meines Mannes befruchtet wurden. Romantik pur!
Bereits 2 Tage später wurde der nächste Hormonbehandlungszyklus begonnen (erinnert ihr euch noch: das Shanghai-Protokoll). Insgesamt konnten wir in 2 dicht aufeinanderfolgenden Hormonbehandlungen 9 Embryonen gewinnen. Ich war erleichtert die Chance dieser Vorsorge bekommen zu haben, denn vor allem Patientinnen mit einer akuten Leukämie bleibt keine Zeit mehr für solche Dinge. Beruhigt etwas abgeschlossen zu haben und vorerst nicht darüber nachdenken zu müssen, wann diese Zellen als Kinder in mein Leben treten sollten, kehrten wir gemeinsam der Kinderwunschambulanz den Rücken zu, bis wir in einigen Jahren wohl unsere Kinder aus dem Gefrierschrank holen würden.
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