Wo geht die Reise hin
Die erste Reiseetappe liegt hinter mir und auch wenn rückblickend bereits eine große Schlacht geschlagen wurde, fühlt es sich für mich an, als ob ich noch nicht einmal zur Startlinie vorgerückt wäre. Während ich an gefühlt anderen Fronten kämpfen und mich durchsetzen musste, hat mir MDS weiter zugesehen, es sich gemütlich gemacht und mich dabei beobachtet, wie ich gegen die Assi-Leukämiezellen kämpfe. Der Endgegner hat sich also noch nicht mal die Hände schmutzig gemacht.
Vor mir liegt also noch immer dieser Berg, den ich bisher nur umrundet, aber den Anstieg noch nicht begonnen habe.
Zumindest ohne größere Verluste auf meiner Seite und einem Körper, der noch immer stark ist und sich bereit für die nächste Etappe fühlt, checke ich erneut im Basislager ein. Ein Hauch von Bekanntem, der gleichermaßen Vertrauen wie auch Abscheu aufgrund der Erinnerung an die Monotonie und Routine, in mir erweckt, wird begleitet von einer Brise Nervosität: Wo geht die Reise nun hin? Welchen Weg werden wir dieses Mal nehmen?
Es ist die 7. Narbe, die sich einen Tag später an meinen hinteren Beckenkamm schmiegt und mich ebenfalls an den Weg bis zu diesem Punkt erinnert. Die Angst ist so eine Sache, sie klammert sich meist an etwas Greifbares, wie im Falle einer Beckenkammbiopsie an die Angst, dass es wehtut und das Dormikum vielleicht nicht ausreichend wirken könnte. Die viel größere Angst vor dem Ergebnis und damit dem Sinn und Zweck der Punktion, schwebt noch auf einer Metaebene über mir herum und ist fürs Erste nicht greifbar.
Ich spreche, die für mich entscheidende Frage aus, die mir auf der Zunge liegt:
"Bin ich noch leukämiekrank?"
Eine eindeutige Antwort erwartet mich auf diese Frage nicht, denn scheinbar gleicht mein Inneres im Knochenmark einem Unkrauturwald, bei dem es schwer ist zu unterscheiden, was davon bereits da war und was neu gewachsen ist. Aber es gibt eine erste positive Nachricht, die mich wieder zurück auf den Weg zum Ziel bringt. Der Blastenanteil im Knochenmark ist auf 9% zurückgegangen und damit können wieder die ersten Schritte in Richtung einer Stammzelltransplantation eingeleitet werden. Wir setzen den Kurs also wieder auf den ursprünglichen Plan. MDS, dein Schleudersitz wird langsam eingebaut und du wirst auf meinem Lebensweg bald aussteigen müssen.
An dieser Stelle muss ich den folgenden Satz schreiben, um es mir selbst auch zu sagen und es entsprechend wertschätzen zu können:
Ich danke dir, mein Körper, denn du hast Großartiges geleistet und mich ohne große Nebenwirkungen durch eine erste intensive Schlacht gegen die Leukämie geführt. Du bist (m)ein Wunder!
Es wäre nicht Ich und mein Denkerhirn, wenn wir an dieser Nachricht und vor allem an den Umständen dieser Nachricht nichts auszusetzen hätten. Die Visite verlässt den Raum mit den Worten: "Nun heißt es Warten, bis wir Informationen von der*m Spender*in haben und über den Zeitpunkt der Stammzelltransplantation Bescheid wissen. Je nachdem gibt es nochmals eine Vortherapie oder nicht." Es ist Freitag-Mittag und wir stehen vor einem verlängerten Wochenende. Die Kugelschreiber sind gefallen, die Anrufbeantworter übernehmen bereits die Arbeit der ausgeflogenen Mitarbeiter*innen und Anfragen werden auf den Stapel für nächste Woche gelegt. Die Tür geht zu und mir wird bewusst, dass ich auf ein "Bonuswochenende" im Krankenhaus zusteuere.
Das "Bonuswochenende" - Ein von Patient*innen definierter Begriff für ein, meistens verlängertes, Wochenende, an dem keinerlei Untersuchungen durchgeführt, wichtige Therapiebesprechungen erfolgen oder Entscheidungen getroffen werden. Ein paar zusätzliche Krankenhaustage also an denen nichts passiert und Neuaufnahmen auch in den seltensten Fällen Behandlungen bekommen.
Mir kommt die Situation nur zu bekannt vor, euch auch? Nicht verwunderlich, denn erst vor ziemlich einem Monat passierte genau dasselbe. Die Ergebnisse der Beckenkammbiopsie waren da, aber weder eine Behandlung initiiert, noch das weitere Prozedere besprochen und so vergingen weitere drei Tage, bis ich tatsächlich mit einer Behandlung starten konnte (das Bonuswochenende also gebucht).
"Stay cool" und "Namaste" sagen mir meine Socken von unten. "Ihr mich auch", denke ich beim Anblick meiner ach so witzigen Socken und sage mir selbst mehrmals, "ich bin die geduldigste und coolste Person überhaupt, vor allem im Warten bin ich ja mittlerweile ein Supertalent".
Hallo Lebensretter*in auf der anderen Seite? Bist du noch dran? Ich wär dann jetzt scheinbar doch soweit für deine Stammzellen, falls du Zeit und Lust hättest...
Warum kommt mir das alles nur so bekannt vor?
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Du machst das sehr gut und in deinen Zeilen kommt zum Ende auch wieder dein Optimismus durch. Besser das "Bonuswochenende" mit Aussicht auf Beginn der Therapie, als mitten in der 2. Chemo. Es hört sich gut an und du bist super unterwegs.
Bis bald Mama & Papa 😍