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Tag -7: Countdown für den Neustart

Ein letzter Blick geht durch die Wohnung, dabei muss ich feststellen, dass neben den Kleidungsstücken, die ich sonst sehr gerne überall verteile, auch meine Bettwäsche und mein Handtuch weggeräumt und verschwunden sind. In fünf Minuten verschwinden einige der Spuren von mir und hinterlassen in den kommenden Wochen eine Singlewohnung für meinen Mann.

Ich schließe die Tür und wir machen uns auf den Weg nach Wien in einer emotionalen Mischung aus Routine, Vertrautheit aber auch wieder einmal Trennungsschmerz, Angst und Nervosität.


Zwei Wochen entsprechen dem Zeitraum, in dem man sich einerseits beginnt an einen Umstand zu gewöhnen, eine Routine zu implementieren und sich gewissermaßen an einem Ort wohlzufühlen (denkt daran wie es ist eine oder zwei Wochen im Urlaub zu sein), andererseits diese Umstände nur mehr schwer verlassen will, weil sie vertraut werden. Mit einem zuversichtlich lächendem Auge trete ich also endlich auf die Startlinie, während mein weinendes Auge zurück zu Manuel, meinem Zuhause und dem vermeintlich routiniert vertrauten Alltag blickt, den wir die letzten Wochen versucht haben herzustellen.

Ich drücke den Knopf mit dem Glockensymbol an der verschlossenen, schlichten weißen Stationstür der Knochenmarkstransplantation 21J und warte bis mich das surrende Geräusch einlädt, einzutreten.

Freundlich lächelnde Gesichter begrüßen mich, einige erkennen mich wieder als die Eine, die soviel Pech gehabt hat und nun hoffentlich endgültig gekommen ist um zu bleiben.


Dieser Weg war von Anfang an jene Option, die ich gewählt habe. Meine Chance auf Heilung, Zukunft, das Leben, das ich mir erträumt und für mich ausgemalt habe. Nach den ganzen Umwegen, weiß ich noch besser, dass ich nichts mehr will als diese Chance auf den Neustart. Wieder einmal scheint alles zum Greifen nahe und doch spricht eine kleine ängstliche Stimme in meinem Kopf zu mir: "Wenn nur einer dieser Virenabstriche morgen auffällig ist, fahren wir wieder nach Hause, warten erneut auf Lösungsvorschläge für dieses Drama und verbringen wieder Tage im Dunkeln." "Aber nein, das kann es dieses Mal nun wohl wirklich nicht sein, jetzt ist Schluss, ich habe genug ertragen und genügend Prüfungen bestanden, um zu beweisen wie sehr ich diesen einen Weg gehen möchte", entgegnet die Kämpferin in mir. Irgendwo da draußen wird meine Lebensretterin wohl gerade über den Ablauf der Stammzellspende aufgeklärt und beginnt mit der Injektion der Medikamente. Unsere Wege hätten sich bereits zweimal kreuzen können und in ein gemeinsames Blutsystem gipfeln können, aber stattdessen liefen wir aneinander vorbei. Neben den Stoßgebeten, die ich Richtung Himmel schicke, der starken Seele in meinem Inneren und dem sanften Zuspruch meiner Liebsten, frage ich mich, ob du auch gerade an mich denkst und dir für mich wünschst, dass dieses Mal alles seinen geplanten Lauf nimmt.


Von nun an werden die Tage auf der KMT in absteigender Reihenfolge mit einem Minus versehen bis zum Tag 0, jenem Tag der Stammzelltransplantation, wo ein neues gesundes Leben für mich beginnen kann und mein Blut nie wieder als jenes von Jasmin existieren wird. Ich werde das Blut eines mir komplett fremden Menschen nicht nur in mir tragen, sondern es selbst produzieren, ein blutiger Bund fürs Leben, ein Leben lang "blutsverwandt". Dieser finale Countdown erscheint mir wie der Abschied von etwas Altem und der Beginn von neuem Leben. Es ähnelt jenem Countdown zu Silvester, mit dem wir das alte Jahr und all seine Höhen und Tiefen, die schönen Erinnerungen, aber auch die manchmal schmerzhaften aber wertvollen Erfahrungen verabschieden und ein neues Jahr beginnen, das noch unbeschrieben wie ein weißes Blatt Papier alles für uns bereithält. 7 Tage bis ein Teil meines alten Ichs, meines Lebens, für immer zu Ende gehen wird, damit ein neuer beginnen kann.


Den heutigen Beginn dieser finalen Reise zum Neustart ins Leben verbringe ich mit den mir bereits bekannten Untersuchungen, Anamnesegesprächen, sechs Versuchen mir Blut abzunehmen und schließlich meiner Zenzi 2.0, dem ZVK an meinem Hals. Zugegebenermaßen ist das Setzen dieser Zenzi und die Vorstellung, dass 20cm Draht in meiner Vene Richtung Herz geschoben werden, nicht gerade prickelnd, aber Zenzi erwies sich bereits bei unserer ersten Beziehung als äußerst hilfreich und durchaus angenehmer, wenn es um tägliche Blutabnahmen, Infusionen und Chemotherapien ging, die durch meinen Körper fließen oder aus diesem herausfließen sollten.

Umgeben von einer Geräuschkulisse, die jenen Apps ähnelt, welche Eltern mit Schreibabies zur Hilfe nehmen, um sie mit einem Föhngeräusch zu beruhigen, blicke ich mich in meinem neuen Lebensraum um. Der Himmel über Wien trägt bereits Abendstimmung und leichte Töne von Abendrot, die Skyline ist dieselbe, die ich bereits im 18. Stockwerk genießen durfte. Nie wieder werde ich einen solchen Ausblick quasi kostenlos genießen können. Ich bin nun im obersten Stockwerk angelangt, es gibt kein Zurück mehr. Die rauschende Filteranlage, meine zahlreichen Glücksbringer und Mitbringsel und dieses Mal zumindest meine eigene Dusche und mein eigenes WC sind neben dem simplen Mobiliar wie Sesseln, einem Tisch, dem Ergometer und dem Nachttisch, mein Zuhause für die nächsten Wochen.

Ein Teil von mir sehnt sich nach Zuhause, aber der weitaus größere Anteil in mir zieht die Mundwinkel zu einem Lächeln hinauf und sagt sich selbst im Stillen:

"Ich bin gekommen, um MDS ein für alle Mal aus meinem Leben aussteigen zu lassen. Vorher gehe ich hier nicht mehr weg. Das nächste Mal hält der Heimaturlaub für immer."


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Guest
May 20, 2023

Liebe Jasmin!

Ich bin mir ganz sicher, dass deine Stoßgebete erhört werden und deine starke Seele dir Kraft und Zuversicht geben werden. Die Liebe und die Zuversicht deiner Lieben sind dir sicher und deine Lebensretterin denkt ganz sicher an dich. So wie du, wird sie sich dieses Wunders jetzt bewusst werden. Du bist angekommen um MDS endgültig zu besiegen. Der entscheidende Schritt ist getan. Es ist noch ein Stückchen Weg zu gehen, aber nach all dem Pech, wird es jetzt Zeit Glück zu haben. Glaub ganz fest daran - wir tun es auch 😘

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