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366 Tage am (Über-) Leben



"Ich leuchte!" - Die Worte kommen tief aus meiner Brust wie ein Feuerschwall aus mir heraus, als ich auf einem großen Stück weißem Papier am Boden liege, das meine Körperumrisse zeigt. Ich stehe auf und betrachte mein Körperbild mit Staunen, Verwunderung und vor allem Demut.

Ein weißes Blatt Papier mit nicht mehr und nicht weniger darauf als mir selbst in seiner einfachsten Form, einer Silhouette. Meine Therapeutin reicht mir einen Stift und ich beginne darauf los zu kritzeln, malen und schreiben. Ich befülle dieses weiße Blatt Papier mit Leben in all seinen Farben und Gefühlen.


Mein neues Leben ist nun über ein Jahr alt und wie ein unbeschriebenes Blatt, das in diesem Moment tatsächlich vor mir liegt, befülle ich es mit neuen Erfahrungen und Eindrücken. Die sprichwörtliche "tabula rasa". Im vergangenen Jahr habe ich meine innere Tafel von einigen hinderlichen Glaubenssätzen befreit, neue Farben verwendet und seit langem wieder den Mut gefunden, Pläne zu schmieden und zu träumen.

Ja, ich bin noch immer vorsichtig und die Angst wird wohl immer mein Begleiter sein, aber immerhin habe ich wieder Ziele vor Augen, an die ich vor einem Jahr weder zu denken noch auszusprechen gewagt habe.


Nichts ist mehr wie es war und wird es auch nie mehr sein. Das Erlebte lässt sich in keine mir bekannte Maßeinheit einordnen, alle vorhandenen Vergleichsparameter funktionieren nicht. Warum Ich? - Diese Frage hat meine Gedanken so oft in den vergangenen Jahren und auch in diesem ersten Jahr des Überlebens begleitet. Es ist für viele Menschen, die erste Frage, die ihnen in den Sinn kommt, wenn sie einen Schicksalsschlag erleiden. Sie bringt jedoch nie eine Lösung mit sich, sondern nur noch mehr Leid und Ohnmacht. Ich hätte mir bestimmt genügend Warum- Fragen stellen können, nur einige Beispiele:

  • Warum habe ich so eine Scheißkrankheit und andere Menschen, die viel böser sind als ich, nicht?

  • Warum muss ich um das Leben kämpfen, während andere leichtfüßig durchs Leben gehen können?

  • Warum ärgern sich andere über Larifari Probleme ohne zu wissen was ein wirkliches Problem ist?

  • Warum können andere so einfach all das im Leben haben was sie wollen und mir bleibt es verwehrt?

WARUM WARUM WARUM ...die Liste der möglichen weiteren Fragen ist unendlich und Antworten darauf gibt es keine. Anstatt mich in den Sog der Warum-Spirale zu begeben habe ich mich für ein Upgrade entschieden. Körperlich betrachtet habe ich mit der Stammzellentransplantation ein Softwareupdate auf die Version Jasmin 2.0 bekommen. Aber die Heilung und der Neustart umfass auch eine völlig neue Ausrichtung der eigenen Glaubengrundsätze und Lebensideale um voranzukommen und die eigene Lebenskrise als Chance zu sehen.

Meine Definitionen von Glück, Gesundheit, Liebe, Freundschaft, Selbstwirksamkeit und Leben im Allgemeinen werden zurzeit neu geschrieben und auch meine Lebensziele haben sich stark verändert. Habe ich früher an Materiellem festgehalten und erreichbare Ziele mit Abschluss verfolgt wie ein Studium, einen bestimmten Job oder ein paar Wände mit Dach darüber, so strebt mein Geist nun nach Idealen, die kein Ende und Ziel haben, sondern vielmehr ein Leben lang als Richtlinie dienen sollen.


Es hat alles begonnen mit einem Leuchten, das ich in diesem Moment meiner Therapie vor dem weißen Blatt Papier mit meiner Silhouette tief im Inneren meiner Brust gespürt habe. Ich atme tief ein und seufze mit einem Schmunzeln aus. Tränen sammeln sich in meinen Augen und auf einmal weiß ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin und es wahrscheinlich gar nicht um das Ankommen geht, wie ich sonst in meinem bisherigen Leben geglaubt habe, sondern um das Entlangspazieren und sich auf die eigenen Ideale im Leben zuzubewegen. Mein weißes Blatt hat nun ein paar farbige Flecken an einigen Körperstellen mit Wörtern darin, die mein neues Denken und meine eigene Wirklichkeit abbilden sollen. Ich empfinde Demut und Dankbarkeit dabei, wenn ich mich selbst auf diesem Papier betrachte. Ich habe lieb gewonnene Menschen an Krebs verloren, die ebenfalls gekämpft und es nicht weniger verdient haben als ich, nun hier mittendrin im Leben zu stehen. Ich bin es gerade auch ihnen, meinen Mitkämpfer*innen schuldigt, das Geschenk des Lebens immerfort zu würdigen und anzunehmen.

In diesem Sinne bleibt diesem Jahresabschlussbericht nur mehr hinzuzufügen, dass ich mich auf viele weitere zweite Geburtstage mit meinen Liebsten freue, die mich lehren, wie wertvoll das Geschenk des Lebens ist und wie bunt es sich immerfort präsentiert.




Mantra zum Mitnehmen:

Möge ich in Demut leben.



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